Digitalisierung der Hochschullehre – Wie geht es weiter?

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[ for the english version please visit: https://medium.com/@IncomPlattform/digital-trends-in-higher-education-whats-next-259b1b9f48ec ]

Eine Stellungnahme zu aktuellen technologischen Entwicklungen im akademischen Bildungsbereich bezogen auf den Horizon Report 2014

Der »Horizon Report« gilt weltweit als eine der aktuellsten und renommiertesten Informationsquellen über neue und aufkommende Technologien im akademischen Bildungsbereich und wird seit 2004 jährlich vom New Media Consortium (NMC) und der EDUCAUSE Learning Initiative (ELI) herausgegeben.

Der folgende Post umreißt zunächst diese Trends und stellt anschließend einen Bezug zur Incom Plattform dar.

Massive Open Online Courses – kurz: MOOCs – haben mächtig Wind in die Digitalisierungsdebatten gebracht – auch an deutschen Hochschulen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ausschließlich online stattfinden und theoretisch eine unbegrenzten Anzahl an Teilnehmern partizipieren kann. MOOCs, die im letztjährigen Horizon Report noch als kurzfristiger Schlüsseltrend aufgeführt waren, werden im aktuellen Report nun unter den »schwierigen Herausforderungen« abgehandelt.  Sie versprechen die kostengünstige, einmalige Abhandlung von standardisierten Lehrinhalten und bieten den Hochschulen eine Möglichkeit sich nach außen hin zu profilieren. Das ist sicherlich bestechend – nach den ersten Erfahrungen nun wundert man sich jedoch über eine hohe Abbrecherquote und hinterfragt, ob und inwiefern die eingesetzten Tools und Services den Bedürfnissen der Lernenden gerecht werden. Beklagt wird oft der fehlende soziale Kontext und zu wenig Interaktion zwischen den Teilnehmern.

»Etliche anerkannte Vordenker sind jedoch der Ansicht, dass sich die derzeitige Ausprägung von MOOCs von der ursprünglichen Prämisse weg entwickelt hat, die Downes und Siemens aufstellten: Sie sahen MOOCs als Ökosysteme des Konnektivismus – eines pädagogischen Ansatzes, in dem das Erlangen von Wissen nicht das abschließende Ziel ist, sondern ein fortlaufender Prozess, befeuert durch die Beziehungen, die die Teilnehmenden zueinander aufbauen und die tiefgehenden Diskussionen, die dem MOOC entspringen. Dieses Modell stellt die Wissensproduktion über den Wissenskonsum.«

http://www.nmc.org/publications/2014-horizon-report-higher-ed, Seite 33

Diese Aspekte könnten als Gründe gesehen werden, warum der Report von 2014 die »zunehmende Verbreitung sozialer Medien« und die »Integration von Online-, Blended- und kollaborativem Lernen« als Schlüsseltrends mit aufnimmt – also individuelle und menschliche Gesichtspunkte wieder mehr in den Vordergrund rücken..

Genauso folgerichtig erscheint die Erwähnung des »Flipped-Classroom-Modells« als wichtige Entwicklung. Diese Lehrmethode versucht durch die geschickte Vernetzung von Online und Offline die Präsenzzeit qualitativ zu stärken. Die Idee dahinter: Die Unterrichtszeit nicht auf das Vortragen von Informationen zu verwenden, sondern konkrete Verständnisschwierigkeiten oder interessante Aspekte im Dialog mit den Lernenden zu vertiefen. Dazu informieren sich die Studierenden selbstständig vor oder nach dem Unterricht – bspw. durch die Rezeption von Vorlesungsaufzeichnungen und vertiefenden E-Book-Inhalten. Anhand der Kommentare und Fragen, die Studierende online stellen, können sich Lehrende gezielter auf den Unterricht vorbereiten und während der Präsenzzeiten konkrete Fragestellungen behandeln und vertiefen. Die Unterrichtsumgebung verwandelt sich so in einen dynamischen, stärker gemeinschaftsorientierten Raum, in dem Studierende kritische Diskussionen führen oder Aufgabenstellungen in Gruppen bearbeiten können. Die Präsenzzeit wird interaktiver und ermöglicht einen intensiveren Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden sowie zwischen den Studierenden untereinander. Die Rolle der Lehrenden wandelt sich von Vortragenden zu Mentoren, die die Lernaktivitäten der Studierenden individuell anleiten.

In einer Review des »Flipped Learning Networks« ist eine der vier Säulen der Ruf nach einer veränderten Lernkultur von einem traditionell Lehrenden-zentrierten hin zu einem mehr Lernenden-zentrierten Ansatz.

»Students move from being the product of teaching to the center of learning, where they are actively involved in knowledge formation through opportunities to participate in and evaluate their learning in a manner that is personally meaningful.«

Flipped Learning Network http://flippedlearning.org/cms/lib07/VA01923112/Centricity/Domain/41/LitReview_FlippedLearning.pdf

Die zumeist englische Forschung zu diesem Modell sieht die Vorteile im »active learning« – also dem selbstständigen Lernen, in dessen Prozess asynchron auf individuelle Erfahrungen des Einzelnen angeknüpft wird. Mit individuellen Lernwegen wird das Wissen selbst erarbeitet. Das funktioniert zum Beispiel über projektbezogenes Arbeiten und die selbstständige Auswahl eigener Themen. Eine andere Säule aus der eben zitierten Forschung spricht von »peer instruction« – also dem Lernen von Kommilitonen. Auch das ist ein wichtiger Aspekt in den von uns beobachteten Lehrsituationen.

Der interessanteste Schlüsseltrend des diesjährigen Horizon Reports scheint mir aber der »Paradigmenwechsel von Studierenden als Konsumenten hin zu Studierenden als Machern« zu sein. Studierende engagieren sich und gestalten mit der Wahl ihrer Studienmodule ihr individuelles Kompetenzfeld und somit ihren Karrierereweg. Vielerorts erlauben Hochschulen schon »Student Studies« – also ein nachfrageorientiertes Studium, bei dem die Studieninhalte nicht von den Lehrenden, sondern von den Studenten gemacht werden.

Zeppelin Universität Friedrichshafen – https://www.zu.de/studium-weiterbildung/studienkonzepte/student-studies.php?navid=724971724971

Die gängigen Lehrplattformen stehen einer aktiven Mitgestaltung durch die Lernenden jedoch geradezu im Weg. Kurse anlegen und Kursräume gestalten können meist nur die Lehrenden. Studierende werden in diesen Modellen lediglich gefüttert und bekommen – wenn überhaupt – nur kleine Nischen zugewiesen, in denen sie sich austauschen dürfen.

Auch die »Learning Analytics« fehlen nicht unter den diesjährigen Schlüsseltrends. Unter Learning Analytics versteht man das Sammeln, Messen und Auswerten von Daten aus individuellen Lernprozessen, die dazu dienen sollen eben diesen zu optimieren. Der Deutsche Hochschulverband hat dazu folgende Meinung geäußert:

»Auch auf Seiten der Nutzer von digitalen Lehrformaten gilt es, schutzwürdige Interessen zu wahren. Die Sammlung von Daten, wie zum Beispiel die Antwortgeschwindigkeit, Arbeitslänge und -intensität, Wiederholungsfrequenzen usw., die Rückschlüsse auf das individuelle Studierverhalten zulassen, ist aus datenschutztechnischen Gründen zu untersagen.«

Statement deutscher Hochschulverband : Online-Lehre als Teil der universitären Lehre (S. 4) http://www.hochschulverband.de/cms1/fileadmin/redaktion/download/pdf/resolutionen/Online-Lehre_als_Teil_der_universitaeren_Lehre.pdf

 

Wie Incom den Entwicklungen begegnet

Die Lehre in gestalterischen Fächern, für die Incom ursprünglich konzipiert wurde, findet nicht wie in vielen anderen Hochschulbereichen in Form von Massenveranstaltungen statt, sondern lebt vom gemeinsamen Arbeiten und Austausch in vergleichweise kleinen, ineinander verwobenen Gruppen. Diskussion und Feedback ist multidirektional, d.h. die Studierenden sprechen nicht nur mit Lehrenden über ihre Arbeiten, sondern die Meinung der Mitstudenten ist ebenso wichtig. Der Einfluss informellen Lernens nimmt gegenüber dem des curricularen Lernens einen größeren Stellenwert ein. Ein typischer Lernzyklus besteht aus Recherchieren, Ausprobieren, Reflektieren, Diskutieren, Dokumentieren und Präsentieren. Das vielleicht entscheidenste Merkmal bei diesem Prozess ist, dass die Studierenden dabei nicht alleine sind. Die Kommunikationsplattform Incom unterstützt die Lehrenden und Lernenden dabei optimal. Incom dient den einzelnen Akteuren als ein gemeinsamer Ort des Austauschs und der Zusammenarbeit. Reflexion und Präsentation der eigenen Ergebnisse spielen dabei genauso eine Rolle wie Inspiration durch die Arbeit anderer.

Ein vernetztes Community-Modell moderiert die verschiedenen, ineinander verwobenen Gruppen und summiert sie zu einem identitätsstiftenden Ganzen. Offenheit, Transparenz und Privatheit gehen Hand in Hand. Dadurch initiiert die Plattform eine offene und menschliche Kultur der Zusammenarbeit.

Die Incom-Plattform beteiligt alle Nutzer in einer rollenübergreifenden Kooperation auf Augenhöhe. D.h. Lehrende, Studierende und Mitarbeiter der Hochschule haben nahezu dieselben Rechte, dürfen also Arbeitsgruppen initiieren und gestalten. Diese Grundeinstellung des gleichberechtigten Miteinanders fördert die wissenschaftliche Zusammenarbeit. Studierende können also ebenso wie Lehrende Workspaces zu eigenen Themen erstellen, sich dort austauschen und organisieren. Projektarbeit kann schon in einer frühen Phase dokumentiert und reflektiert werden und für die eigene Arbeitsgruppe zum Peer-Review freigegeben werden.

Da Incom keine klassische E-Learning-Plattform ist, die ihre Nutzer durch choreografierte Inhalte schleust und den Wissensstand durch Quizze abfragt, scheint der Ansatz der »Learning Analytics« in der momentan propagierten Form irrelevant. Das Mitschreiben und Auswerten von Daten zu der Anzahl an Logins und der Zeit, die mit Inhalten verbracht wird, scheint uns in Bezug auf die Leistungen und Fähigkeiten eines Lernenden wenig aufschlussreich zu sein. Im Offenlegen dieser Daten – und sei es nur vor dem Lehrenden – sehen wir eine massive Verletzung der Privatsphäre der Studierenden. Zur Lernplattform Blackboard wird ein Tracking-Tool – das »Retention Center« angeboten, mit dem Lehrende ihre Studenten beobachten können. Das Demovideo dazu fühlt sich, für mich als Europäerin, wie ein Horrorfilm an.


https://help.blackboard.com/en-us/Learn/9.1_SP_10_and_SP_11/Instructor/040_Student_Course_Experience/Student_Performance/Using_the_Retention_Center

Studierende werden dadurch nicht individuell behandelt, sondern in vordefinierte Schubladen einsortiert, die nach fragwürdigen Regeln angelegt werden. Die berechenbaren Merkmale bieten nicht die hierfür notwendigen Relevanzkriterien. Das primäre Ziel von Web-Analytics – nämlich individuelle Probleme abzufangen und den Lernenden an die Hand zu nehmen, diese zu lösen – sehen wir in der momentanen Ausprägung nicht gut umgesetzt. Das Mitschreiben von Verhaltensdaten könnte auch positiv benutzt werden, um Interessen zu bündeln, Engagement zu belohnen und ein Bewusstsein für die individuelle Situation innerhalb einer Gemeinschaft zu generieren.

Interessanterweise erwähnt der Horizon Report 2014 auch »Agile Veränderungsansätze« als langfristigen Trend. Agile Methoden leben von der direkten Kommunikation mit den Anwendern. Bei der Entwicklung der Incom-Plattform agieren wir schon sehr lange nach diesem Prinzip. So hat jede Installation einen speziellen Workspace, in dem die Nutzer die Entwicklung der Plattform diskutieren und Verbesserungen vorschlagen können. Diese werden nach der 80/20-Regel in Angriff genommen oder eben verworfen.

Incoms zugrundeliegende Struktur setzt auf Reduktion einerseits und Flexibilität andererseits. Letzteres ist quasi die Antwort auf ersteres. Und die Flexibilität, die wir meinen, impliziert ein »Design for Hackability«. Hackability ist für uns ein positiv besetzter Begriff, der von Kreativität und Nutzerinitiative zeugt. Bestehende Systeme werden verbogen, um auch für nicht intendierte Vorhaben nutzbar gemacht zu werden. Die Geschichte der Webtechnologien zeigt, dass genau das der Weg ist, um Nutzer-gewollte Werkzeuge zu entwickeln.

Um agile Strukturen in der Hochschullehre umsetzen zu können, braucht es ein System, das agile Prozesse nicht nur zulässt, sondern auch unterstützt und wertschätzt. Dabei helfen systemimmanente Werte wie dezentrale Kontrolle, gleichberechtigte Handlungsstrukturen, Schutz der Privatsphäre, einfache und selbstverständliche Optionen genauso wie ansprechende Oberflächen.

»… designing for hackability means allowing and encouraging people to make technologies be what they want them to be.«

Galloway, A., Brucker-Cohen, J., Gaye, L., Goodman, E. and Hill, D. 2004.
Design for Hackability. In Proc DIS ’04: 363-366.

Als abschließendes Fazit möchte ich hervorheben, wie sehr ich die aktuelle Debatte um digitale Lernformen begrüße. Der Wirbel, den die MOOCs gebracht haben, läutet endlich das lang ersehnte Ende des E-Learning 1.0 ein und bringt, neben einer didaktischen und strategischen Diskussionen auch Impulse, wie Werkzeuge gestaltet sein sollten, die digitales Lernen begleiten. Wir beobachten eine Rückbesinnung auf Blended-Learning-Formate, die individuelle und menschliche Gesichtspunkte aufgreifen und stärken sollen. Werte wie Vertrauen, Offenheit, Privatheit und Gemeinschaft wollen angesprochen und einbezogen werden. Studierende sind keine Konsumenten, sondern aktiv beteiligt an der Gestaltung ihres Lernprozesses und Erkenntnisgewinns. Ein System, das moderne Lehre begleitet, sollte die akademische Zusammenarbeit auf Augenhöhe bestärken und nicht auf alte hierarchiebetonte Strukturen zurückgreifen. Das zeigt uns die anhaltende Beliebtheit von Social-Media-Formaten in der Wissensarbeit. Wir hoffen, dass Institutionen im allgemeinen mehr mit neuen digitalen Werkzeugen experimentieren und in Zukunft nicht nur Feature-Tabellen, sondern auch Benutzbarkeit und Qualität der Tools eine Rolle spielen.


tina
Tina Deiml-Seibt ist unsere Expertin in den Bereichen Community-Building, Socio-Semantic Web und User-Experience-Design mit jahrzehntelanger Erfahrung in Forschung, Entwicklung und Lehre. Tina kümmert sich darum, dass Incom eine soziale Plattform bleibt, auf der sich unsere Nutzer wohlfühlen.